Mittwoch, 5. Januar 2011

Wie kommt es zum Piraten Prozess

Ein kurzer Rückblick in den Sommer 2009: «Schockierend» nannte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in Genf, UNHCR, die Bilder, die ihren Weg aus dem Internierungslager für Flüchtlinge und Migrant_innen Pagani auf der griechischen Insel Lesbos fanden. «Totales Versagen» in ihrer Flüchtlings- und Asylpolitik warf die Organisation Human Rights Watch der griechischen Regierung vor.

Im Internet kann sich jeder das Video ansehen, das Aktivist_innen des NoBorder-Netzwerks am 20. August 2009 aus dem Lager geschmuggelt haben. Heimlich gedreht von einem Insassen, zeigt es katastrophale Zustände in einem Lager, das für höchstens 300 Insassen gedacht war, in das zeitweise jedoch bis zu 1000 Menschen gepfercht wurden. Menschen aus Afghanistan, dem Iran und dem Irak, Palästina, Eritrea und Somalia. Ein Junge sagt in dem Video: «Das ist das schlimmste Gefängnis der Welt. Es ist ernst. Bitte helft uns.»




Griechenland ist zusätzlich mit Tausenden Flüchtlingen konfrontiert, die irgendwann einmal über Griechenland die EU betraten und dann in andere Unionsländer weiterzogen und von diesen nun zurück nach Griechenland geschickt werden. Dies entspricht den Regeln des sogenannten Dublin II-Abkommens.

Ein Teufelskreis für Flüchtlinge und Migrant_innen, die abgeschoben nach Griechenland der Gefahr willkürlicher Inhaftierung, Obdachlosigkeit und Hunger ausgesetzt sind.

Was hat nun Griechenland mit Somalia zu tun?

Wie wir am Beispiel Griechenland sehen, läßt sich die Bewegung der Migration nicht wirklich aufhalten.

Europa begegnet Flucht und Migration mit Grenzüberwachung und Repression. Und das steht für uns als Veranstalter_innen in direktem Zusammenhang mit dem Prozeßauftakt gestern. Warum dass so ist, werde ich kurz ausführen.

Der unerklärte Krieg gegen Migrant_innen findet heute nicht mehr nur an den konkreten Außengrenzen statt. Seit einigen Jahren sind mehr und mehr die Migrationsrouten in den Fokus der Kontrolle gerückt. Zu sehen ist das unter anderem an den Patrouillen von Frontex vor der senegalesischen Küste um Flüchtlinge und Migrant_innen daran zu hindern nach Europa zu gelangen oder am europäischen Polizeiamt EUROPOL das Migrationskontrollstellen in ganz Afrika einrichten will.

Im Kampf um das Überleben bieten sich den Somalis somit nur zwei gleichermaßen lebensgefährliche Alternativen: Entweder sie versuchen, über die See in eines der Länder zu migrieren, aus denen die reich beladenen Frachtschiffe, Öltanker und Luxusjachten kommen und in die modernen Industriefangschiffe ihre Beute aus dem Indischen Ozean bringen, oder sie entführen eines dieser Schiffe und erpressen Lösegeld.

Seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 ist die Zahl der Menschen, die auf die Verteilung von Lebensmitteln angewiesen ist, auf 3,8 Millionen gestiegen; damit sind fast die Hälfte der rund acht Millionen Somalis von Hunger bedroht. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei weniger als einem US-Dollar am Tag. (Die Weltbank legt die Armutsgrenze bei einemUS-Dollar pro Tag fest). Es gibt keine funktionierende Regierung, Warlords und Al-Shabaab-Milizen kontrollieren das Land. Gesetzlosigkeit, Raub und bewaffnete Konflikte sind genauso allgegenwärtig wie Hunger und Vertreibung.

Nach UN-Angaben durchquerten mindestens 38.000 Flüchtlinge in den ersten zehn Monaten 2008 den Golf von Aden. Etwa tausend Menschen starben dabei oder werden vermisst. Schätzungen zufolge stirbt ein Flüchtling von 20 auf der Flucht von Somalia in den Jemen. (IMI-Analyse 2008/008 - 15.2.2009,
Broschüre "Kein Frieden mit der NATO - Die NATO als Waffe des Westens", S. 11
Februar 2009)

Piraterie ist eine direkte Folge von Fischraub und Giftmüllverklappung: Als in der Folge des Bürgerkrieges die Überwachung der Küstengewässer durch die Marine und Küstenwache Somalias zusammenbrach, betrieben industrielle Fischereiflotten aus Europa und Asien Fischdiebstahl in großem Stil. Andere europäische Länder haben Tausende von Tonnen von Giftmüll illegal in das Meer vor Somalias Küste verklappt (vgl. UNEP 2005a).

Nach Angaben der Vereinten Nationen verliert Somalia jährlich 300 Millionen US-Dollar wegen illegalen Fischfangs an seinen Küsten. Etwa 700 Schiffe, so schätzt die die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO – Food and Agriculture Organisation), fischen jedes Jahr ohne Lizenz vor Somalia. Weltweit ist jeder fünfte Fisch auf den Tellern illegal gefangen.

Im Herbst 2010 tummelt sich vor der somalischen Küste die größte Anti-Piratenflotte der Neuzeit, eine Armada von mehr als 40 Kriegsschiffen. Neben der Beteiligung der USA und der EU sind auch Japan, Russland, China und Indien beteiligt. Es geht darum, »Flagge zu zeigen« gegen ein paar Hundert ehemalige Fischer, Küstenschützer und Soldaten, die, scheinbar unbeeindruckt von dem internationalen Flottenverband, die Zahl ihrer Überfälle auf Schiffe in den Gewässern vor Somalia gegenüber dem Vorjahr noch gesteigert haben.

Obwohl alle Beteiligten wissen, dass das Phänomen Piraterie ökonomische und soziale Ursachen hat, und dass eine Lösung des Konflikts damit ökonomischer und entwicklungspolitischer Natur sein müsste, wird die argumentative Verknüpfung von Piraterie, organisierter Kriminalität und Terrorismus im Falle Somalias fortgeschrieben. Ohne diese Verknüpfung wäre der kostspielige Militäreinsatz schwer zu legitimieren – zumal er sich bislang als wenig erfolgreich erweist.